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Motorradfahren als Lebensschule

Der Titel erscheint mindestens etwas überspitzt oder gar provozierend...
ist es aber nicht!

Hauptgebot: Quasi mit einem Auge stets sich selber beobachten... bin ich locker - oder bin ich irgendwo verspannt... Gesicht, Gesässmuskeln, Unterkiefer, Hände...

Es tönt einfach "ein Auge auf sich haben" - setzt aber schon einige Übung voraus. Wir sind es eher gewohnt, andere zu beobachten als uns selbst - vor allem wenn es um Dinge geht, welche wir nicht offensichtlich im Spiegel sehen. Es braucht einige Übung, in der Situation, situationsgerecht, während dem Fahren zu merken, wenn man verspannt ist oder es gar schon merkt, wenn sich eine Verspannung erst anbahnt. Umgesetzt ins normale Leben: Es hilft sicher, wenn man in Alltagssituationen merkt, wenn man nicht mehr locker ist...

Locker bleiben - nicht verkrampfen - loslassen.

Dies setzt voraus, dass man erst schon mal merkt, wenn man vespannt ist. Die darauf folgende Übung ist dann, die (sich anbahnende) Verspannung zu lösen - idealerweise augenblicklich - wo auch immer im Körper. Auf dem Motorrad kann man natürlich keine grossen turnerischen Entspannungsübungen machen - es muss vor allem im Geist geschehen. Mentales Training! Ich habe gemerkt, dass sich alle Verspannungen auch im Gesicht und im Hirn bemerkbar machen. Umgekehrt: Wenn ich das Gesicht und das Hirn entspanne, dann löst sich alles im Körper.

Verspannungen, Verkrampfungen beeinträchtigen den Handlungsspielraum und fressen Energie. Andersrum: Ich habe das Gefühl, dass jedes aktive Sichlösen wie eine Energiespritze wirkt. Nach einem Tag Pässefahren bin ich abends voll aufgeladen.

Angst überwinden -  Angst ist ein schlechter Ratgeber - Angst blockiert die Sichtweise und den Handlungsspielraum - nicht wie ein geschockter Hase vor der Schlange blockiert bleiben.

Es kann vorkommen, dass in einer Kurve plötzlich ein Stein im Weg liegt. Die normale Reaktion ist, dass man erschrocken den Stein fixiert. Die Folge davon ist, dass man unweigerlich über den Stein fährt, obwohl links und rechts viel Platz wäre zum Ausweichen. Es fährt dahin, wo man hinschaut. Also den Blick vom Stein lösen und dahin richten, wo man fahren möchte. Es gibt auch das bekannte Beispiel "weit und breit ist 1 Baum - und man trifft ihn".

Ich behaupte, dass viele Motorradunfälle ausgelöst werden durch blosse Schreckmomente - ohne reelle Gefahr. Zum Beispiel fährt einer "fröhlich" die Passstrasse hinunter und in einer Linkskurve müsste er den Radius etwas verkleinern, hat aber das Gefühl, sprich Angst, er habe jetzt schon zuviel Schräglage, das heisst, er könne nicht noch mehr, er sei am Limit... der Ausgang der Geschichte endet jenseits der Strasse.. den Hang hinunter. Obwohl alles kein Problem gewesen wäre, wenn er nicht von seiner Angst blockiert worden wäre. Es war bei weitem nicht das physikalische Limit sondern bloss sein persönliches Limit, welches ihm gesetzt wurde von seiner Vorstellung - seiner Angst. Oder ein anderes Beispiel: Er fährt wieder "fröhlich" die Passstrasse und plötzlich sieht er in der Kurve die Felswand vor sich und müsste den Radius etwas verkleinern... wir wissen es schon was jetzt folgt.

Man ahnt es schon: Im normalen Leben ist es genau so: Durch Ängste sind wir blockiert in unserem Handlungsspielraum - unser Horizont verkleinert sich - die persönlichen Möglichkeiten werden begrenzt - die Angst setzt uns (ihre) Schranken. Selbstverständlich kann man dies im normalen Leben auch üben, aber beim Motorradfahren geschehen diese Situationen laufend, das heisst: Man kann dauernd üben... wenn man will. Dauernd üben fürs Leben.

Welche Macht die Angst hat, kann man schön sehen im folgenden fiktiven aber gut nachvollziehbaren Beispiel: Wir spazieren auf einem 2m breiten Weg - schauen um uns und geniessen die Umgebung - absolut problemlos. Stellen wir uns nun vor, dieser Weg wäre in 1km Höhe - links und rechts Abgrund... Die meisten von uns würden wahrscheinlich im besten Fall noch kriechend vorwärtsgehen.

Nach vorne schauen - Weitblick - das Ziel vor Augen haben.

Eine Kurve kann man bloss sauber fahren, wenn man (weit) nach vorne schaut wohin die Fahrt gehen soll. Ist erstmal ein kurzer Erkundungsblick in die Kurve getan, gilt es, den Blick mindestens an den Ausgang der Kurve zu richten - eher aber noch (viel) weiter. Dies kann in einer Haarnadelkurve bedeuten, dass der Kopf zB fast rückwärts gedreht ist zur momentanen Fahrtrichtung.

Interessant ist, dass bei richtiger Blicktechnik das sensomotorische Zusammenspiel von Schräglage und allem Drum und Dran alles automatisch richtig geschieht - unser Unbewusstsein wird zum besten Freund, zum alles überschauenden Mitlenker, zum Superpartner.

Schreckmomente, herrührend von kurzsichtiger Blickweise sind gar kein Thema bei vorausschauendem Blick. Andersrum: Hat man den Blick immer kurz vor sich gerichtet in der Kurve, so ergibt dies sozusagen eine Sägekurve und man erwartet ängstlich dauernd irgendwelche Hindernisse - kommt hinzu, dass solche Fahrten sehr ermüdend sind.

Also: Stets das weite Ziel vor Augen behalten...


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