Agenda-Zeitschrift: Bewusstwerdung:
Zwei identische Babies

Bewusstwerdung bedeutet nicht den Abbruch, das Aufgeben des bisherigen Lebens, es bedeutet vielmehr 'erweitertes Leben'. Das heisst: Leben und erleben durch eine umfassendere Sichtweise - eine Sichtweise, die im Idealfall 'das Ganze' sieht, das Ganze im Auge behält. Nun, was könnte dies heissen?

Bewusstwerdung ist Thema jeder ernstgemeinten Esoterik; wir könnten dazu sehr weit ausholen über Gott, das Universum, die Evolution, Mensch, Seele ...

Zwei identische Babies

 

Zwei identische Hans'

... doch versuchen wir mit einem fiktiven Beispiel aufzuzeigen, worum es grob betrachtet geht. Dieses Beispiel soll zeigen, wie das Leben so mit uns spielt, ohne dass wir (lange Zeit) etwas davon merken - es passiert eben einfach mit uns - unbewusst, das heisst: Wir nehmen es nicht wahr. Angenommen, zwei ursprünglich identische Hans' würden auf zwei total verschiedene Plätze in diese Welt gesetzt. So soll der eine Hans im tiefen Urwald aufwachsen, der andere erhält seinen Platz in einer Grossstadt inmitten von Wolkenkratzern. Diese beiden, ursprünglich genau gleichen Hans' wachsen nun in ihrer Umgebung auf, die jedem zu seiner geliebten Heimat wird.

Nach 20 Jahren prägender Erfahrungen reagieren diese zwei (eigentlich gleichen) Menschen auf total unterschiedliche Art - und jeder von diesen zwei Hans' hat das Gefühl, er sei aus seinem tiefsten Wesen heraus so wie er sich jetzt fühlt. Jeder ist überzeugt von seinen Einstellungen, von seinem Charakter. Jeder glaubt felsenfest daran, dass die Welt genau so ist, wie er sie empfindet und was er davon denkt. Jeder empfindet sich als unumstössliches, aus sich lebendes und agierendes Zentrum. Jeder ist ÜBER-zeugt: So wie ich es sehe, so ist es wahr - und was ich vom andern (auch vom Nachbarn) denke, ist nicht nur meine Ansicht von ihm, sondern so ist dieser auch tatsächlich - ohne Zweifel. Kein Hans merkt, dass vor allem das eigene Denken sein Bild vom andern prägt und dass dieser in Wahrheit vielleicht ganz anders ist.

Freund oder Feind?

Freund ...


 

... oder Feind

Keiner dieser zwei merkt, dass seine Überzeugungen, für die er sogar in den Krieg ziehen würde, nur Ansichten sind, die sich im Verlaufe des Lebens bei ihm angesammelt haben. Wären diese zwei Hans' - ursprünglich ein Herz und eine Seele - in feindlich gesinnten Lagern aufgewachsen, würden sie sich aus voller Überzeugung sogar bekriegen - aus einer durch willentliche oder nicht willentliche Stimmungsmache entstandenen Überzeugung heraus, die schliesslich jeder seine eigene nennt. Jeder würde den anderen tatsächlich als Feind, Todfeind sehen, obwohl sie eigentlich Herzfreunde sind. Wären die zwei Hans' am Anfang vertauscht worden, so würde jetzt jeder ebenso aus Überzeugung auf der Gegenseite kämpfen! Diese Bilder, diese inneren Bilder, diese rein persönlichen Ansichten, diese ÜBER-Zeugungen wirken auf den Menschen und dieser identifiziert sich voll und ganz damit ... aus Unbewusstheit! Wie könnte man sich bewusst von Bildern oder gar von Feindbildern reiten lassen!? Der vollbewusste Mensch erkennt die Ansichten als An-Sichten, als Sichtweisen, die Bilder als Bilder - er identifiziert sich nicht damit und zieht auch nicht in den Krieg dafür.

 

Erfahrungen: Schutz oder Gefängnis?

Nach 20 Jahren prägender Erfahrung ist also jeder auf seine ihm eingeprägte Art eingeschränkt ... durch seine ganz persönliche Charakteristik, seinen Charakter, aus dem keiner mehr ausbrechen kann ... jeder ist be- und gefangen in seinen Ansichten und seinem aufgeprägten Verhalten, das durch seine persönliche Vergangenheit bestimmt ist. Bei jedem ist seine persönliche Vergangenheit mass-gebend für sein Verhalten. Etwas überspitzt könnte man sagen: Jeder wird von seiner ganz persönlichen Vergangenheit gelebt - und in diesem Sinne sind ein grosser Anteil an neuen Erlebnissen so etwas wie Spiegelungen der Vergangenheit.

Genau so wie zB. ein Reh an seine Umgebung und Lebensverhältnisse 'von Natur aus' angepasst wird, genau so geschieht es auch bei diesen Hans'. Das Reh, das in der Wildnis aufwächst, wird ein ganz anderes Weltbild entwickeln als wenn es in einer lieben Familie behütet wird, wo sogar der Hofhund lieber Freund ist. Das eine Reh wäre in der anderen Umgebung aber nicht mehr überlebensfähig - mindestens bräuchte es eine lange Zeit der 'Umprogrammierung'.

Jeder dieser zwei Hans' hat also sozusagen in sich ein geistiges Abbild seiner Welt, seiner Umwelt, seines Umfeldes, worin er sein Leben erfahren musste. Dieses geistige Abbild seiner ganz persönlichen Welt, das stärker wirkt als die eigentliche Welt selber, ist das sogenannte Ego. Wenn die zwei Hans' nun ihre Plätze tauschen, so reagieren sie lange Zeit, in gewissen Situationen sogar zeitlebens, nach den alten, ihnen eingeprägten Mustern. Dies muss (vorerst) so sein: Erfahrungen müssen sitzen, sonst würden wir uns tausendmal die Finger verbrennen...

Das Ego: inneres Leben

Gehen wir von folgender Modellvorstellung aus: Es gibt einen überweltlichen Kern, zB. Seele genannt, und es gibt diese unsere Welt; dazwischen das Ego als unser geistiges Abbild unserer (Um-) Welt. Dieses Abbild, das die Summe ist von all unseren Ansichten, Anschauungen, Theorien, Beurteilungen, usw., ist entstanden durch unsere Erfahrungen, die sich im Verlaufe unseres Lebens angesammelt haben. Das Ego ist quasi unser psychisches Anpassungsglied an unsere Umgebung und macht uns darin überlebensfähig. Wir können irgendwohin geboren werden, wir werden damit optimal der entsprechenden Umgebung angepasst (einfach einmal als Überlebens-Strategie). Nun ist dieses Ego nicht einfach tote Information wie Computerdaten, sondern das Ego ist Leben in uns. Es lebt und (be-) lebt uns ... solange wir diese Funktion nicht selber übernehmen können; was vollste Bewusstheit voraussetzen würde - wovon wir in der Regel noch weit entfernt sind.

Dieses 'innere Leben' kann uns in dem Masse beherrschen, wie wir es nicht zu integrieren vermögen. Dass dieses Unbewusste nicht nur totes Faktum ist, sondern eben Leben ist, hat jeder schon erfahren in Situationen, bei denen er sein Fehlverhalten schon dutzende Male klar eingesehen hat, wo er sogar 'sicher' war, dass es ihm nicht mehr passieren würde. Bis zur nächsten Situation ... und schon passiert es wieder ... unbewusste Mechanismen laufen fast unweigerlich, zwangsläufig ab - es lebt in uns ohne dass wir es wollen.

Das Ego bringt uns in Stimmung

Dieses Ego bringt also quasi unser Inneres in Übereinstimmung mit dem Äusseren: Je nach äusserer Situation werden wir in die 'richtige Stimmung' - ob in Kriegs- oder in Liebesstimmung - versetzt und zu 'uns passenden' Reaktionen gebracht. Das Ego synchronisiert uns in einer Situation genau so, wie es unserem (persönlichen) Erfahrungsschatz entspricht. Unser innerer, überweltlicher Kern wird so über die weltliche Situation, wie sie gerade vorliegt, quasi ins 'richtige Bild' gesetzt. Beim nicht vollbewussten Menschen entscheidet das Ego gleich mehr oder weniger selber, wie die momentane Situation richtig einzuschätzen ist und 'zwingt' uns zudem noch zu einem entsprechenden Verhalten in dieser Situation. Dieser Zwang des Egos ist nicht ein Zwang im üblichen Sinn, sondern äussert sich in einem zwanghaften Ablauf unserer Reaktionen, dh. wenn wir also 'fast nicht anders können' als so oder so zu reagieren.

Unser Kern wird quasi einer Schwerkraft oder Magnetkraft ähnlich von dem Teil unseres inneren Welt-Abbildes (Ego) angezogen, welcher der momentanen Situation am ehesten gerecht zu werden scheint. Dies hat zur Folge, dass der Kern dauernd vom Ego herumkommandiert wird, dh: Das Ego wird so zum Mass aller Dinge ... EGOismus!

Dieses Prinzip, nämlich dass wir von unserem Erfahrungsschatz be- und gelebt werden, funktioniert im Grossen wie im Kleinen: So wie es in diesem Beispiel im Grossen, im Ganzen funktioniert, genau so funktioniert es auch im Kleinen, mit jedem Aspekt - in uns.

Freiheit! - in uns

Diese fast-instinktmässigen Reaktionen sind vorerst einmal nötig, um überhaupt überlebensfähig zu sein. Mit fortschreitender Reife sollten diese Automatismen (automatisch = unbewusst) aber durch bewusste Handlungen abgelöst werden. Diese Ablösung ist die Haupt-Arbeit im Bewusstwerdungs-Prozess und macht - mit der richtigen Sichtweise und Lebenseinstellung - das Leben erst so richtig interessant. Unsere Los-Lösung von den uns irgendwie auferlegten Mustern bringt eine stets zunehmende Freiheit mit sich. Wir sind dann den Mustern und Fäden nicht mehr auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Wir erleben Raum ... Spielraum ... friedlicher, glücklicher Raum - in uns.

Und in der Praxis ...

Eigentlich ahnt oder 'weiss' dies alles jeder schon, aber: Wissen wir es so, dass es auch wirksam ist?

Wirk-liche Bewusstwerdung ähnelt von der Art her stark dem Unterfangen des Grafen von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf mitsamt seinem Ross aus dem Sumpf herauszieht, der ihn zu verschlingen droht. Auf den ersten Blick scheint es hoffnungslos - aber es geht!

Hat man einmal den Kniff entdeckt, so wird das Ganze zum lustvollen und lohnendsten Hobby dieser Welt - dessen Früchte diese Welt sogar noch überdauern - für uns.

Es genügt aber nicht, nur mit dem Kopf an diese Dinge heranzugehen. Wir müssen uns mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit mit Kopf und Bauch, mit Verstand und Gefühl, mit aktivem Willen und mit passiver Reflexion wohlwollend diesem inneren Leben zuwenden. Das Wichtigste dabei ist, dass wir uns vermehrt in Achtsamkeit in unserem Leben üben. Richtige Meditation ist die beste Schulung in dieser Hinsicht.

Weshalb machen wir es nicht einfach zu unserem schönsten Hobby? Dem Hobby frönen, sich Zeit lassen. Es darf nicht zu schnell gehen, da jeder Schritt Voraussetzung ist für den folgenden und uns ein Stück der Stärke verleiht, die wir für den nächsten grösseren Schritt brauchen werden. Nicht spirituell in die Ferne schweifen, sondern den nächsten anstehenden Schritt vollführen, der ohnehin schon fast klar ist. Und so geht es immer weiter mit einem nächsten überschaubaren Schritt, so dass die Reise nie zum unüberschaubaren Abenteuer wird.

Machen wir uns also auf, die Schwerkraft unserer inneren Welt(-Bilder) zu überwinden und den 'ursprünglichen Hans', unseren verschütteten Kern wieder zu finden ...

... Selbstfindung = Bewusstwerdung.

Bewusstwerdungs-Prozess

Im Zusammenhang mit der Bewusstwerdung sind beim Ausdruck 'Unbewusstes' nicht zB. historische Daten oder mathematische Regeln gemeint, die ich heute noch nicht weiss, die ich mir aber morgen aus einem Buch aneignen kann. Dieser Wissens-Zuwachs ist nicht gemeint.

'Bewusstwerdung' beschreibt hier vielmehr einen Prozess, bei dem geistiges, psychisches 'Leben in mir', sozusagen psychische Fakten in mein Verstehen (Verstand und Gefühl) integriert wird. Es geht also um inneres Leben, das anfangs unbewusst, dh. ausserhalb meiner bewussten Einflussmöglichkeiten und ausserhalb meines Verständnisses abläuft. Psychologisches Leben - Leben, das von der Psyche her gesehen logisch ist - annehmen und verstehen lernen.

Nach C.G. Jung sei sinnbildlich:

Individuation, Ganzwerdung ist ein Begriff von C.G. Jung und bedeutet das Schlüsselkonzept in Jungs Beitrag zu den Theorien der Persönlichkeitsentwicklung. In diesem Zusammenhang ist das SELBST ein weiterer Begriff von C.G. Jung und bedeutet unseren göttlichen Wesenskern, uneingeschränkt absolut frei und allumfassend. Vergleichen kann man das SELBST mit einer Kugel. Auf der Oberfläche dieser Kugel ist ein kleiner Punkt, das "Ich". Mit diesem Punkt identifiziere ich mich und meine, das sei ich - wo ich doch eigentlich viel mehr, nämlich die ganze Kugel wäre!

Die Kugel als mein Potential, meine ganzen Möglichkeiten des 'Durchblickes': Allumfassende Weisheit. Auf der Oberfläche der Kugel der besagte Punkt: Das Ego, womit ich mich identifiziere, an dem ich festhalte und mich dadurch auch einschränke und mich verschliesse gegenüber den danebenliegenden Möglichkeiten. Diese klammernde Identifikation geschieht von Natur aus, ohne mein Wissen: Unbewusst! Ich in meiner Be-HAG-lichkeit, in meinem geschützten Rahmen, in meiner Eingeengtheit. Ich, der sich mit dem Punkt der Gewohnheiten, Ansichten, Meinungen, Vermeintlichkeiten, Vorstellungen identifiziert, wo ich doch eigentlich die ganze Kugel sein könnte.

So gesehen bekommt das Wort SELBST-Entfaltung eine ganz grosse Bedeutung und hat nichts mit Ego-Trip zu tun; im Gegenteil. Ich kann mir nämlich das SELBST nicht aneignen, sondern ich habe den Klammergriff am "Ich" zu lösen - loszulassen. Es geht um das Loslassen von einengenden Identifikationen. In diesem Zusammenhang ist Loslassen ein sehr grosses Wort. Dies ist wirkliches Loslassen - es wirkt - es wirkt erweiternd - hin zum SELBST. Wir alle wissen aber, dass es in der Praxis nicht so einfach ist, "einfach loszulassen". Wird man sich aber der Zusammenhänge bewusst, so mag es immer besser gelingen.

Erweiterung des Horizontes, Erweiterung des Punktes zur Kugel: Bewusstwerdungs-Prozess: Erweitertes Erkennen: Erweitertes Leben: Leben ...

 

Beitrag aus
AGENDA für Ihre persönliche Entfaltung
erschienen März 1994


PRISMA, Seminare und Beratungen für erweitertes Erkennen, CH-6353 Weggis

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